Es gibt sie, diese Spiele. Du spielst sie und du bist verzaubert. Von der Welt und der Geschichte. Von den Ideen und der Kreativität. Von der Detailverliebtheit und der Durchgeknalltheit. „After the Moonfall“ ist so eins. Und dann willst du die Geschichte hinter der Geschichte erfahren. Wissen, wie Felix Mertikat diese völlig verrückte Welt entwickelt und bei King Racoon Games daraus nach einem Area-Control-Strategiebrocken ein ganz wunderbares Rollenspiel gemacht hat. Ein Rollenspiel, das ohne überbordende Regeln, ohne hundert Talent- und Fähigkeitswerte auskommt. Ein Rollenspiel, das zurück zu den Wurzeln geht. Zur Rolle und zum Spiel. Es ist Improtheater am Spieletisch, in dem nicht der Würfelwurf entscheidet, sondern die Erzählung. Und das ist mit der richtigen Gruppe schlichtweg genial. Ein bemerkenswertes, immersives Erlebnis mit langem Nachhall bis weit zurück in den Alltag hinein. Weil es so ein gutes Gefühl war, zu spielen.
Bemerkenswert sind auch die Sätze, die Mertikat über sein Spiel und die Entwicklung sagt. „Es ist tatsächlich gar keine große Magie, wenn man viel Zeit und Einfluss hat.“ Bitte was? Er meint, dass nicht im Sinne von Macht, sondern von Einflüssen. „Ursprünglich wollte ich ein Spiel für eine andere Storyworld machen. Die Zeitebenen sollten durcheinander gekommen.“ Man stelle sich Dinosaurier vor im amerikanischen Bürgerkrieg, die auf barocke Hofbälle und K.I.-gesteuerte Raumstationen im Orbit treffen. Das Spiel kam nicht zustande. „Aber ich hatte extrem unterschiedliche, asymmetrische Fraktionen. Und für die habe ich eine Welt gebraucht“, erzählt er. Nun war aber die Frage: Was könnte passieren, um die Welt so zu verändern, dass es diese Fraktionen gibt? „Ich mag es, wenn es wissenschaftlich ist“, erzählt Mertikat. Offenbar aber auch groß und phantastisch. Also ließ er den Mond auf die Erde fallen – „Full Moon Down“, wie das daraus entstandene Brettspiel heißt.
Großartig illustrierte neue Welt von „After the Moonfall“
„Diese Idee des abgestürzten Monds, der Pheromone mit einem Mutationsfaktor in die Welt brachte, hab ich eine Weile mit mir rumgetragen, Spielideen getestet und schließlich jemanden getroffen, der die Idee der japanischen Mythologie reingebracht hat. So kamen Cybersamurai dazu. Und dann war die Frage: Wenn man diese Pheromone hat, die ganz schnell Lebewesen verändern können – was könnte daraus entstehen?“ Die Tsukuyumi-Welt war geboren und entwickelte sich rasant, als wäre sie selbst von den Pheromonen befallen. Dass der Drache Tsukuyumi im auf der Erde eingeschlagenen Mond festsitzt, kam später dazu, „ich habe die Geschichte sozusagen rückwärts angepasst“, erinnert sich Mertikat, der nicht nur die Welt neu erfunden, sondern auch großartig illustriert hat.
In vielen Gesprächen sammelte er weitere Ideen für Fraktionen. Einer wollte Pandas, die Pan Doas entstanden. Jemand anderes fand Drachen gut – warum nicht? Drachen sind im Spiel. Es war aber nun auch kein völlig freies Fraktionen-Wunschkonzert. „Ich musste das Gefühl haben, dass die Fraktion in die Welt passt. Es gab auch den Vorschlag von Bibliothekaren, aber das war nicht das richtige Flair“, erzählt er.
Area-Controll-Spiel, Rollenspiel, Comic, Romane: Die Welt von Tsukuyumi
„Das hat total viel Spaß gemacht und am Ende dafür gesorgt, dass wir jetzt mehr Fraktionen ausgedacht haben, als wir jemals veröffentlichen könnten“, verrät der kreative Kopf hinter „Full Moon Down“ und „After the Moonfall“. Wobei das alles noch die Entstehung der Welt für „Full Moon Down“ war. „Das Rollenspiel kam erst Jahre später, ist aber das exakt gleiche Setting.“ Und das ist etwas, was Mertikat wirklich wichtig ist. „Es gibt kein Tsukuyumi-Setting, in dem der Mond nicht auf der Erde liegt.“ Im Comic „Tsukuyumi – Full Moon Down“, in der geplanten Romanreihe, von der Band eins – „Jadetränen – die Insignien des Kaisers“ – bereits erschienen ist, im Brett- und im Rollenspiel.
Wie ist diese Welt denn nun? Wir gehen zum Anfang, der im Grundregelwerk auf einigen Comicseiten erzählt ist: Die Erde wurde von Kami, gottgleichen Wesen bewohnt, darunter der Monddrache Tsukuyumi, der – von den anderen Kami verbannt – in tiefem Schlaf die Erde umkreist, ummantelt von kosmischem Staub. Im Lauf der Jahrtausende erhoben sich die Menschen gegen die Kami und bekämpften sie, bis nur noch Tsukuyumi übrig war. Als die technologische Entwicklung der Menschheit sie befähigte zum Mond zu fliegen, wollten sie auch den Monddrachen vernichten. Und was soll ich sagen? Die Menschheit hat’s mal wieder vergeigt. Die Lanze, die Tsukuyumi töten sollte, steckt unverrückbar in seiner Flanke und der Monddrache stürzte verletzt und stinksauer mitsamt Mond auf die Erde.
Von Fraktionen und Sentinels
Und dort ist seitdem alles anders. Verschobene Kontinentalplatten, verdrängte und neue Meere ohne Ebbe und Flut, neue Gebirge, neue Abgründe – und eine Vielzahl neuer Lebewesen. Denn der im Mond gefangene Tsukuyumi verströmt Pheromone. Einerseits beschleunigen sie die Evolution, andererseits machen sie die Lebewesen zu Dienern des Drachen. So entstehen neue Spezies, aber auch die todbringenden Oni, gesichtslose Schergen Tsukuyumis.
Die Fraktionen, teils menschlich, teils Hybride aus Lebewesen und Maschine, teils aber auch (hoch-)intelligente Tiere, suchen in dieser Welt nach ihrem eigenen Vorteil im harten Kampf ums Überleben. Es gibt aber auch die Sentinels, die ihre Fraktionen verlassen haben, um sich einem höheren Ziel zu verschreiben: dem Wiederaufbau und der Zusammenarbeit im ewigen Widerstreit mit Tsukuyumi und seinen Oni.
An Land wandelnde Wale, zeitreisende Affen, Cybersamurai und aus Wildschweinen entstandene, matriarchalisch organisierte Borstenmütter, Nanobots steuernde Architekten und intelligente Insekten des Schwarms – in all diese Rollen können die Spielenden als Sentinels schlüpfen. Und noch viele mehr. Corporats zum Beispiel, menschengroße Ratten, die Kapitalismus und Corporate Identity auf ein ganz neues Level bringen, man beachte die Fußnoten, ich lache immer noch darüber.
Schlaglichter der Entstehung von „Full Moon Down“
Wie nun aus „Full Moon Down“ ein Rollenspiel in der Welt des Monddrachen entstand, über das ich bei der SPIEL 2024 zum ersten Mal gestolpert bin? Mertikat erzählt die Geschichte in Schlaglichtern.
Schlaglicht eins: „Ich habe lange keine Rollenspiele gespielt und wollte wieder anfangen und meine Frau auch ans Rollenspiel heranführen.“ Eine Runde kam zusammen, spielte einige Male. „Wir hatten Lust auf die Leute und das Thematische. Aber nach drei Abenden hatten wir keinen Bock mehr. Immer wieder hieß es: Das geht laut Regel nicht. Mein durchtrainierter, fitter, schneller Charakter kann keine Vorwärtsrolle machen, um hinter einer Theke in Deckung zu gehen. Das war frustrierend und hat den Spielspaß getötet.“
Warum kann der Elf nicht mehr klettern?
Schlaglicht zwei: „Wenn du irgendwann als Spieler und Spielleiter so gelangweilt bist von den immer gleichen, vielen, komplexen Regeln, fängst du an zu experimentieren.“ Er konzentrierte sich in der Entwicklung von Charakteren komplett auf die Kampfwerte, ließ alle sozialen Fähigkeiten außer Acht. „Dann kann man den Charakter in der Rolle trotzdem sozial spielen, aber wenn’s zum Kampf kommt, ist man nicht der Depp.“ Ruckzuck stellte er sich dann die Frage: „Wozu brauche ich soziale Fähigkeitswerte eigentlich?“
Schlaglicht drei: „Wir bauen coole Charaktere und wollen sie auch cool spielen. Aber alles, was ich mir für den Charakter ausgedacht habe, bricht in sich zusammen, weil ich einen Würfelwurf nicht schaffe. Weil ich dem vorgefertigten Plot folgen muss. Weil ich immer genau nicht die passende Fähigkeit oder den passenden Wert habe. „Alles ist so runtergebrochen in Regel- und Wertedetails, dass ich nicht meinen Charakter spiele, sondern einfach mit Würfeln versage. Und plötzlich kann mein auf Bäumen lebender Elf nicht mehr klettern.“ Für Mertikat bricht an dieser Stelle die Narration.
Wenn Regelsysteme nur verhindern
„Der Spielleiter fragt: ,Was machst du?‘ Dann beschreibst du es. Würfelst. Und es geht schief. Aber warum hat mein Klettern nicht geklappt? War ich fast oben, halb hoch oder noch am Boden?“ Darauf geben Regeln keine Antwort. „Anders gesagt: Wenn ich nur oft genug würfeln muss, um über eine Mauer zu kommen, warum ist es dann überhaupt schwierig, über die Mauer zu kommen?“

Für den kreativen Kopf haben sich diese frustrierenden Schlaglicht-Momente aufsummiert. Immer wieder. „Ich wollte einen Ausweg finden. Wie kommen wir wieder dahin, dass alle am Tisch in jeder Situation mitmachen? Und wie kommen wir dahin, dass die Narration des Charakters nie gebrochen wird zuungunsten des Spielers? Oder wie kann ich einen guten Polizisten spielen, ohne es in jedem Würfelwurf beweisen zu müssen? Denn genau das tun Regelsysteme.“ Der Fähigkeitswert und der Würfelwurf beweisen, dass der Polizist kein guter Schütze ist, obwohl er es in der Anlegung des Charakters ist. Die Regeln verhindern, statt zu fördern. „Wenn ich mir einen Pistolenhelden ausdenke, will ich das auch sein. Ich will nicht nur der sein, der nur manchmal trifft.“
Was macht gute Rollenspielerfahrung aus?
Aus eigener Erfahrung und vielen Gesprächen, weiß Mertikat: „Alle guten Rollenspielerfahrungen hängen an zwei Dingen: An einem guten Spielleiter und an Hausregeln. Dann hat man eine gute Zeit gehabt – nicht wegen, sondern trotz des Regelwerks.“ Er nennt das provokant das Stockholm-Syndrom der Rollenspieler. Sie nehmen das Regelmartyrium auf sich, weil es immer noch besser ist, als nicht zu spielen.
Und das soll aufhören. Das muss aufhören. Zumindest für die, die für die Charaktergenerierung nicht mehr ein abgeschlossenes Mathestudium brauchen wollen. Und für die, die nicht dauerhaft ihren Glückswürfel anbeten wollen, um eine Chance auf einen Treffer zu haben. Wer all das mag, bitte! Hab Spaß, freu‘ dich dran. Jeder, wie er’s möchte. Aber ich verstehe jeden Satz von Felix‘ Schlaglichtern. Jeden. Und jeder fühlt sich richtig an.
„After the Moonfall“ balanciert sich selbst
Über Jahre entstand so „After the Moonfall“ in seiner heutigen Form. Weil Mertikat sich weiter Fragen stellte wie: „Was heißt Rollenspiel gemeinsam an einem Tisch? Wie können die Spielenden gleichberechtigt mitgestalten? Was ist die Rolle des Spielleiters und des Würfelwurfs? Wenn man das zusammenträgt, mit Spielern und Spielleitern spricht, dann kann man beim Regelwerk von ,After the Moonfall‘ rauskommen.“
Es ist ein System, das sich selbst balanciert. „Du kannst eine Ameise spielen, aber auch einen Wal. Alles dazwischen ist machbar und jeder einzelne Charakter hat sein volles Potenzial. Und ich will das genau so ohne Einschränkungen“, betont er.
Es geht um die Erzählung
Denn es ist ein Grundprinzip von „After the Moonfall“, dass es um die Erzählung geht. Egal, welchen Charakter man wählt. Charaktere haben sogenannte Stile. Das können Ausrüstung, Waffen, Begleiter oder Fähigkeiten sein. Egal, alle haben Werte von zwei bis zwölf. Die Spielleitung bringt die Sentinels ins Abenteuer und ab dann wird erzählt. Egal, wohin die Geschichte führt. Bei Herausforderungen legt die Spielleitung fest, wie viele Meilensteine in der Erzählung die Spielenden erschaffen müssen.
Das bedeutet: Die Spielenden kommen in Situationen, in denen sie Entscheidungen treffen und Dinge tun. Dafür würfelt eine Spielerin mit zwei W6. Aus allen Stilen, die den gleichen oder einen höheren Wert haben, kann sie einen auswählen. Und erzählt konkret, wie sie ihn nutzt. Ein Beispiel eines Stils: Der Teleporter der Chronomaster. Die stark verkürzte Erzählung: „Ich sitze noch versteckt im Gebüsch, nutze meinen Teleporter und erscheine auf der anderen Seite des Flusses, ohne dass die Wachen mich entdeckt haben.“ Die Antwort der Spielleitung: „Gut, das war ein Meilenstein.“ Weil die Spielerin ihren Stil passend zu Charakter und Situation genutzt hat.

Geschichte gemeinsam weiterentwickeln
Wer als nächstes seinen Meilenstein erzählt, kann zuvor Gesagtes nicht mehr rückgängig machen. Wenn wir nach oben auf den Berg gelaufen sind, kann nicht jemand sagen: „Ich bin aber noch unten“. Das ständige Miterleben und Mitdenken – „Wo sind wir, wer macht was und wie kann ich daran anknüpfen?“ – fesselt die Spielenden in der Geschichte, es lässt sie permanent teilhaben und mitentwickeln. Weit tiefer, als ich das im Rollenspiel bisher erlebt habe.
Nach einer Runde, in denen alle Spielenden Meilensteine gesammelt haben, folgt die Spielleitungsrunde, in der der Plot weitergeht oder wichtige Ereignisse oder Charaktere ins Spiel kommen. Danach geht die Erzählreihe der Spielenden weiter, bis genug Meilensteine geschafft sind.
Handlungen scheitern in „After the Moonfall nicht, sie haben Konsequenzen
Die Spielleitung kann ein Veto einlegen, falls eine Aktion tatsächlich komplett dem Plot entgegenläuft oder die Verwendung eines Stils keinen Sinn ergibt: „Nein, du kannst mit Diplomatischem Geschick nicht die Lawine aufhalten.“ Aber ansonsten ist auch er oder sie Teil des Improtheaters.

Wenn ein Spieler eine riskant klingende Aktion wählt, kann die Spielleitung ihm ein bis drei Risikowürfel auferlegen. Die zeigen vier leere rote Seiten und zwei Seiten mit Tsukuyumi. Würfelt der Spieler Tsukuyumi, erzählt die Spielleitung die Konsequenz. Und das ist der entscheidende Punkt. Es geht um die Konsequenz, nicht um das Scheitern. Heißt: der Risikowurf negiert niemals die vorherige Erzählung des Spielers. Das Narrativ bleibt ungebrochen. Die irre Handlungsidee hat einfach nur Folgen. Die können in Schaden oder beschädigter Ausrüstung resultieren – auch das wird erzählt.
Schockverliebt in ein Rollenspiel

Und ich liebe alles daran. Die Spontanität. Das Lachen am Tisch, weil der durchgeknallte Clown des Moon Circus mal wieder hervorragend in seiner Rolle geblieben ist, Chaos stiftet und dafür von einer Borstenmutter einmal quer durch den Raum geboxt wird. Die völlige Freiheit, in der die erzählerische Phantasie die Geschichte bestimmt. Was übrigens die Vorbereitung auf ein Abenteuer für die Spielleitung deutlich reduziert. Es braucht Eckpunkte und einen groben Plan, der Rest entsteht am Tisch. Und das ist schlicht und einfach wunderbar.
Es gibt in der Welt von „After the Moonfall“ neben dem Regelwerk bereits einen Abenteuerbegleitband, der die Welt mit weiteren Details versorgt, ein Würfelset und einen Sichtschirm für die Spielleitung. Läuft „After the Moonfall“ gut, kann noch deutlich mehr kommen. Neue Fraktionen, neue Adaptionen des Regelwerks in anderen Storyworlds – die kluge Idee, Rollenspiel wieder auf die Grundwerte herunterzubrechen, denen zufolge Menschen gemeinsam am Tisch sitzen, spielen, erzählen und eine Geschichte erleben. Es funktioniert grandios. Felix, danke dafür!

Wer in ein Spielerlebnis in „After the Moonfall“ reinschnuppern möchte, kann das auf YouTube bei Sessionsstreams mit Felix und Trailern zum Spiel tun. Viel Spaß!
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