Immer wieder nehmen sich Autoren PC-Spiele als Vorlage. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Martin Wallace hat es gewagt und sich einen richtig dicken Brocken ausgesucht: „Anno 1800“ vom Entwicklerstudio Ubisoft ist Teil einer zum erfolgreichen Klassiker avancierten Aufbau-Strategie-Reihe. Das gleichnamige Brettspiel setzt richtig viel vom Computer auf den Spieletisch um – was „Anno 1800“ zum strategischen Schwergewicht auf Kennerniveau macht, das definitiv nichts für Anfänger ist.

Schon die Box kommt mit gefühlten fünf Kilogramm Spiel mit Masse daher. Sie ist vollgepackt mit Gebäudeplättchen, Inseln, Karten und Bevölkerungssteinen. Ziel des Spiels ist es, im Zeitalter der Industrialisierung eine florierende Wirtschaftsmetropole aufzubauen und Einflusspunkte zu gewinnen.
Typische Anfangsindustrie bei „Anno 1800“
Zunächst hat jeder Spieler eine Insel mit der typischen Anfangsindustrie für Holz, Kohle, Getreide und Co. Für die Herstellung der Waren sind zu Beginn nur Bauern nötig. Nach und nach können weitere Produktionsstätten gebaut werden, auch auf andere Bauwerke, die man nicht mehr benötigt. Dann kommen nach und nach Gebäude ins Spiel, in denen andere Bevölkerungsteile arbeiten.

Was einfach mit „Ich brauche Getreide und Kohle, um Brot zu backen“ beginnt, wird zum komplexen Winkelzug im Kopf. Weil beispielsweise für die Fregatte Kanonen, Segel, Bretter und ein Ingenieur nötig sind. Eine Kanone wiederum braucht Lehm, Eisen und einen Ingenieur, die Segel müssen aus Brett und Zwirn hergestellt werden. Und Bretter, Zwirn, Kohle und Lehm wollen ja auch erst einmal vorrätig sein.
Lange Planung nötig
Dafür werden nach und nach Bauern, Handwerker, Arbeiter und Ingenieure eingesetzt oder auch von Klasse zu Klasse „verbessert“, damit am Ende eines ausufernd langen Plans aufeinanderfolgender Spielzüge hoffentlich ein Schiff vom Stapel laufen kann.
Nun ist es aber so, dass jedes Gebäude nur zweimal vorhanden ist und benötigte Waren, die man nicht selbst produzieren kann, mit Mitspielern gehandelt werden müssen. Und das kann den Plan kurz vor knapp zerplatzen lassen wie eine Seifenblase.
Ist Handel billiger als eigene Produktion?
Allerdings: Handeln kann auch billiger sein, als die ganze Abfolge der Waren selbst herzustellen. Es ist gar nicht so einfach, hier die richtige Strategie zu finden, denn Handeln kostet und bringt zugleich den Mitspielern Gold ein. Das will man ja nun eigentlich auch nicht…

Man kann übrigens nicht nur die eigene Insel beim Bauen vergrößern. Es ist auch noch ein weiterer typischer Handlungsstrang des PC-Spiels eingebaut: Expedition auf ferne Inseln, auf denen am Computer ebenfalls gesiedelt werden kann. In der Brettspielvariante sind dort allerdings „nur“ je drei Waren zu finden, die gen Heimat gebracht werden können.
Stadtfest bringt Bevölkerung nach Hause, danach ist sie wieder einsetzbar
Das Problem: Man braucht möglicherweise eine Ware, die auf der Insel nicht zu haben ist, sondern auf der nächsten oder gar erst übernächsten. Digital fährt das Schiffchen dann eben an die andere Insel – da weiß man, was jedes Eiland an Ressourcen zu bieten hat. Das geht am Spieltisch nicht und macht ein Vorankommen schwierig, wenn etwas benötigt wird, das nicht auf der eigenen neuen Insel wächst.

Man kann auch Aufträge erfüllen, fünf aus 20 werden pro Partie gezogen und dürfen von allen erfüllt werden. All diese Aktivitäten werden durch Bevölkerungskarten auf der Hand und mit Bevölkerungssteinen gesteuert. Sie versetzen die arbeitende Bevölkerung, egal welcher Schicht, auf Produktionsstätten. Sind weite Teile der Bevölkerung im Einsatz, ist hin und wieder ein Stadtfest angeraten, denn dann kommen alle Steine wieder zurück auf die Häuser und können von Neuem für den nächsten ausgeklügelten Plan eingesetzt werden.
Die Insel wächst und gedeiht
Zu Beginn werden die Handkarten immer mehr, es scheint zunächst kaum in Sicht, die Spielende-Bedingung „Ein Spieler hat seine letzte Handkarte ausgespielt“ zu erreichen. Doch dann braucht man immer mehr dieser Karten, um zu bauen, zur See zu fahren und Waren zu produzieren.
Die Insel wächst und gedeiht, der Handel blüht. Wer sich in die komplexe Welt von „Anno 1800“ hineingedacht hat, hat ein abwechslungsreiches, hochwertig ausgestattetes Spiel, das schon allein durch die hohe Anzahl an Aktionsmöglichkeiten pro Zug nicht langweilig werden kann. Anfänger im Strategie-Sektor könnten aber genau davon überfordert sein, und wer zu viel denkt und grübelt, sorgt für lange Wartezeiten bei den Mitspielern. Denn eines ist „Anno 1800“ ganz und gar nicht: einfach – noch eine Gemeinsamkeit mit seinem digitalen Pendant.
Kleine Regelkorrektur aus „Anno 1800“

Die Anleitung besagt, dass auf der Insel bereits vorgedruckte Start-Industrien von ihren Alternativen überbaut werden müssen, weil sie jeweils nur einmal besessen werden dürfen. Das ist aber laut Regelkorrektur von Kosmos falsch.
Richtig ist: Die von Bauern betriebene Sägemühle für Holz muss nicht von der von Arbeitern betriebenen Sägemühle überbaut werden. Es geht nur um identische Industrie. Da die Start-Gebäude von Bauern und die später erworbenen von Arbeitern besetzt werden, sind sie nicht identisch. So kann man also doch beispielsweise zwei Sägemühlen auf seiner Insel haben.
Erweiterungen
Für „Anno 1800“ ist (Stand Juni 2024) zusätzlich „Anno 1800 – die Erweiterung“ erschienen.

Schreibe einen Kommentar