Es gibt sie, diese Spiele, die einen umarmen und nicht mehr loslassen. Die im Kopf bleiben, auch wenn sie weggeräumt sind. „Mythwind“ ist so eins. Es ist erholsamer Urlaub am Spieltisch irgendwo zwischen Meditation und analoger Aufbausimulation mit asymmetrischen Charakteren in einem friedlichen Tal. Klingt komplex, ist aber gut zu lernen. Denn man hat Zeit. Viel Zeit. „Myhtwind“ ist quasi endlos spielbar, kooperativ ohne Sieger oder Verlierer. Das ist ein ungewohntes und ausgesprochen beeindruckendes Spielerlebnis.
Zu Beginn treffen wir auf Wächtergeist Fyxx, ein putziges Wesen, das uns mitnimmt ins Tal „Mythwind“. Alte Ruinen zeugen von vorherigen Bewohnern. Die ein bis vier (mit Erweiterung fünf) Spielerinnen bauen gemeinsam ein Dorf auf, in dem sie in Einklang mit den Wesen des Tals leben. Mit allen Charakteren braucht das viel Platz.
Jeder Charakter mit eigenem Regelwerk in „Mythwind“
Vier Charaktere stehen im Grundspiel zur Wahl: Farmer, Handwerkerin, Waldhüter und Händlerin. Jeder spielt sich mit eigenem Tableau unterschiedlich und bringt auch ein eigenes Regelheft mit.
Der Farmer baut auf seinem Feld Obst und Gemüse, genauer gesagt Erdbeeren, Bohnen und Kartoffeln in Form von Polyominos an. Allerdings droht immer wieder Unkraut zu wachsen, das er roden muss. Außerdem kann er sich landwirtschaftliche Ausrüstung beschaffen, um den Ertrag zu steigern. Unter anderem unterstützen Wagen, Sichel, Dünger oder Kühe auf verschiedene Arten beim Lebensmittelanbau. Zugleich blockiert zu viel Ausrüstung zu viel Platz auf dem Acker. Denn neue Obst-/Gemüse-Plättchen können immer nur angrenzend an passende, bereits gesetzte Pflanzen gesät werden. Und das ist mit den Polyominos gar nicht so einfach. Ist eine Pflanze nach dem Säen auch gegossen, dreht man sie um – nun ist sie reif und bereit zur Ernte, also zum Verkauf. So kommt der Farmer an Gold.
Derweil verarbeitet die Handwerkerin Rohstoffe zu Waren. Aus Leder, Papier, Stoff, Birken- und Zedernholz werden Stiefel, Spielzeug, Rucksäcke, Hammer oder ein Schreibset aus Feder, Tusche und Schriftrolle. Das funktioniert zunächst über Bag-Building, indem beschaffte Rohstoffe in einen Beutel wandern. Dann zieht die Handwerkerin an jedem Tag einige Rohstoffe. In ihrer Werkstatt durchlaaufen Rohstoff-Plättchen nach und nach Verarbeitungsschritte, rutschen also von Fach zu Fach. Je wertvoller das Produkt am Ende ist, desto höher muss die Verarbeitungsstufe des Rohstoffs sein. Erfüllt die Handwerkerin einen Auftrag, erhält sie dafür Gold.
Händlerin bislang komplexester Charakter
Der Waldhüter bereitet sich im Dorf vor, beschafft sich Kompass, Flinte, Axt, Falle, Rucksack oder Fußspuren in Form von Karten. Entscheidet er sich zum Aufbruch, ist er tagelang auf Streifzug in der Wildnis im Tal unterwegs, was über Karten genauso gesteuert wird, wie das was er unterwegs einsammelt. Auf dem Rückweg hat er hoffentlich viel Fell, Holz, Fleisch oder Landkarten im Gepäck. Das kann er verkaufen, sobald er wieder im Dorf angekommen ist.
Auch die Händlerin kauft und verkauft Güter, aber andere, als ihre Mitspieler herstellen oder einsammeln. Stattdessen hat sie ein Tableau, auf dem verkaufte oder gekaufte Waren den Preis der jeweiligen Ware senken oder erhöhen. Außerdem hat sie Konkurrenz, die mit ihr um die Gunst der Kundschaft buhlen, die wiederum je nach Karte entscheidet, ob sie bei der Händlerin oder der Konkurrenz kauft. Das ist nicht leicht zu meistern – bislang ist die Händlerin der komplexeste Charakter, der zur Wahl steht.
Struktur von „Mythwind“ bilden Jahreszeiten und Tage
Was allen Charakteren gemein ist: Sie können Fähigkeiten kaufen, die ihnen in ihrem Spezialgebiet weiterhelfen. Das geschieht mit Geld, Waren oder Rohstoffen oder im Fall der Händlerin mit besiegter Konkurrenz. Ist die Charakterwahl getroffen, kann es losgehen.
Die Struktur des Spiels bilden vier Jahreszeiten, die jeweils aus Tagen bestehen. Jeder Tag hat drei Phasen. Der Morgen beginnt mit dem Aufdecken einer Wetterkarte. Wir schauen also, wie es draußen heute so wird. Eine Wetterkarte zeigt Regen, Wolken oder Sonne, manchmal ein Symbol für eine Ereigniskarte oder einen Baufortschritt, dazu später mehr. Sind alle Wetterkarten einmal gespielt, wird der Stapel wieder gemischt und es beginnt am Ende des Tages eine neue Jahreszeit.
Im Dorf Abenteuer erleben oder Gebäude bauen
Am Mittag zieht es Farmer, Händlerin und Co erst zur Dorfaktion auf den Spielplan. Am Anfang sind wenige Aktionen möglich, unter anderem ein Abenteuer erleben oder Ressourcen kaufen, mit denen im Dorf gebaut wird. Je mehr Gebäude von Sägewerk über Metzgerei bis Handelsposten entstehen, umso mehr können die Spieler im Dorf agieren. Zugegeben: Am Anfang fehlen Geld und Ressourcen, aber das wird besser, je weiter sich die Charaktere entwickeln.
Ein Gebäude wird je nach Komplexität erst nach ein bis vier Baufortschritten fertiggestellt. Dafür gibt es am rechten Rande des Dorfspielplans vier übereinander angeordnete Felder. Ist auf der morgens aufgedeckten Wetterkarte ein Bausymbol zu sehen, rutschen alle Baukarten ein Feld nach oben in der Leiste. Die Baukarte im obersten Feld, die aus der Leiste „rutschen“ würde, wird umgedreht, die Spielenden erhalten meist eine Belohnung und können das fertige Gebäude nun im Dorf bauen.
Aus Holzlager kann Sägewerk entstehen
Übrigens müssen sie dafür vorher einen freien Bauplatz im Dorf schaffen – also neues Land erschließen und dafür eine Talkarte entfernen, die einen Bauplatz freigibt, oder ein bestehendes Gebäude abreißen, weil es nicht mehr benötigt wird. Manche Bauwerke ersetzen auch als ein „Upgrade“ ein anderes, beispielsweise wird aus dem Holzlager das Sägewerk.
Wer im Dorf stattdessen abenteuern geht, zieht eine entsprechende Karte, die eine kleine Geschichte erzählt. Am Ende steht meist eine Entscheidung. Auf der Rückseite folgt je nach Ausgang Belohnung oder Verlust.
Arbeiter in Würfelform anwerben bei „Mythwind“
Im Dorf können auch Arbeiter angeworben werden in Form von orangen (Dorfbewohner) und blauen (Waldgeister) Würfeln. Jeder Charakter kann angeworbene Arbeiter auf seinem Tableau unterschiedlich einsetzen. Ein Würfel kann einmal pro Tag unterstützen und wird dann eine Augenzahl niedriger gedreht.
Am Abend prüfen alle ihre Arbeiter. Ist einer bis zur leeren Würfelseite erschöpft, wird er neu gewürfelt und wieder auf den Dorfspielplan gelegt. Am nächsten Tag kann er wieder angeworben werden. Nach und nach kommen über Belohnungen weitere Würfel ins Spiel, sodass die Charaktere mehr Unterstützung bekommen und schneller produzieren oder ernten können.
Ereigniskarten erzählen die Geschichte
Die vom Wetter ausgelösten Ereigniskarten erzählen die Geschichte von „Mythwind“. Sie plätschert gemütlich vor sich hin, auch wenn moralische Entscheidungen Konsequenzen für den Fortgang der Erzählung haben. Denn je nach Ergebnis werden unterschiedliche weitere Ereigniskarten in den Stapel gemischt. Ohne hier zu viel zu verraten: Es gab bisher noch keine größeren Katastrophen, vielmehr lernen wir die Stämme der Waldgeister kennen und entdecken mehr vom Tal.
Keine bösen Gefahren stören unsere spielerische Arbeit in unserem Dorf im Verlauf der Jahreszeiten. „Mythwind“ erinnert sehr an eine Aufbausimulation, wie aus zig PC-Spielen bekannt. Die Charaktere werden entwickelt, lernen dazu.
Gefüllte Tableaus mit Deckel verschließbar: „Spiel speichern“
Die Spieler- und Dorftableaus sind so angelegt, dass sie mit Deckeln verschließbar, einfach wegzuräumen und wieder aufzubauen sind. „Spiel speichern“ und „Spiel fortsetzen“ heißt das passenderweise in der Anleitung. „Mythwind“ hat und braucht aber kein digitales Pendant, es steht für sich und hat etwas Fesselndes und zugleich unglaublich Beruhigendes.
Man kann mal zwischendurch ein, zwei „Tage“ spielen oder eben wirklich einige Echtzeitstunden lang die Welt ausknipsen und entspannt am Dorf im Tal bauen. Bei dem komplexen Inhalt überrascht es wenig, dass bereits kurz nach Erscheinung auf Deutsch erste Erweiterungen zusätzliche Karten und die Wirtin mitbringen, die das Spiel auf bis zu fünf Spieler ausdehnt.
Wirtin aus erster Erweiterungswelle betreibt Gaststätte
Sie betreibt die Gaststätte im Dorf, die mit Möbeln zu bestücken ist. Für zuvor mit Gästen verdientes Geld kauft sie Tische, Kamine und Theken, baut weitere Türen und Fenster ein und schafft schließlich mit Küche und Bühne, Raum für Musik und Theater sowie bessere Speisen und Getränke. Jeden Tag zieht die Spielerin Gäste aus einem Beutel und muss tunlichst zusehen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Dann verdient sie Geld. Will ein Gast aber Musik hören, die es nicht gibt, kann der Ruf der Gaststätte leiden und die Wirtin im schlimmsten Fall Möbel oder Gold verlieren.
Die Wirtin ist gut zu spielen und hilft deshalb allen am Tisch, weil sie im fortgeschrittenen Stadium viel Geld verdient, das die Spielrunde dringend braucht, um die Ressourcen für den Dorfaufbau zusammen zu bekommen. Neuer Erweiterungen sind vom Entwicklerstudio Open Owl bereits angekündigt (siehe unten), Board Game Circus hat auch hier die deutsche Version übernehmen.
„Mythwind“: Herausragend, hochwertig, schön – ein wunderbares Spiel
„Mythwind“ ist ein herausragendes, ruhiges, kooperatives Spiel, in dem wir zusammen oder auch solo planen, ziehen und entscheiden. Die Ausstattung ist so bemerkenswert hochwertig wie die Illustrationen schön sind. Die Mechanismen sind bestens durchdacht, über kleinere Schwächen in den Anleitungen helfen online zu findende Erklärvideos weg.
All das macht „Mythwind“ zu einem Juwel im Spielregal, das seinen hohen Preis absolut wert ist. Wir brauchen keinen Kampf um den Sieg, der Weg des Dorfaufbaus ist das Ziel. Das ist richtig gut so und genau das, was manch einer in diesen unruhigen Zeiten zum mentalen Durchatmen braucht.
Erweiterungen
Für „Mythwind“ sind (Stand August 2024) diverse Erweiterungen erschienen. In der ersten Welle waren es die Zusatzkarten-Packs „Neue Abenteuer und Ereignisse“ und „Wetterwechsel“ sowie die große Erweiterung „Spuren der Vergangenheit“, die die Wirtin als fünften spielbaren Charakter mitbringt. In der zweiten Welle, deren Auslieferug für das erste Quartal 2025 erwartet wird, gibt es den Zusatzkarten-Pack „Das geheime Leben der Geister“ und die große Erweiterung „Freundschaften und Familie“.
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